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8. Das Laboratorium

 

Septimus

Septimus stieg über eine große Papiertüte voller Karotten und ging hinter Una Brakket durch den dunklen Flur. Bisher hatte sie ihn immer nur in das kleine Wohnzimmer gelassen, das zur Straße hin lag, und als er ihr jetzt in den hinteren Teil des Hauses folgte, stellte er mit Verwunderung fest, dass der Flur kein Ende nehmen wollte.

Schließlich blieb die Haushälterin vor einer niedrigen Tür stehen und entzündete eine Kerze, und gleich darauf stieg Septimus hinter ihr eine steile Holztreppe hinunter in einen feuchten und modrig riechenden Keller. Es war ein länglicher, schmaler Raum mit gewölbter Decke, und Geräusche von Paddelbooten, die aus dem Bootshaus gezogen wurden, hallten unheimlich durch die Wände. Außerdem war er voll gestopft mit Plunder, der sich offenbar im Lauf der Jahre hier angesammelt hatte: Berge von rostigen Dreibeinen, Bunsenbrennern und kaputten wissenschaftlichen Instrumenten, Stapel von Holzkisten voller vergilbter alter Papiere, und an der Wand hing sogar ein altes Paar Schlittschuhe.

Septimus trottete hinter Una her, die den Keller durchquerte und durch eine kleine Bogentür verschwand. Der Schein ihrer Kerze verlosch rasch, als sie um die Ecke bog, und Septimus fand sich in völliger Dunkelheit wieder und wusste nicht recht, welche Richtung er einschlagen sollte. Aber das störte ihn nicht, denn der Drachenring, den er am rechten Zeigefinger trug, begann zu leuchten, wie er es immer im Dunkeln tat, und bald hatte er wieder genug Licht, um zu sehen, wo er war.

»Wo bleibst du denn? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, schnitt Una Brakkets scharfe Stimme durch das Dunkel, als sie zurückkam, um nach ihm zu sehen. »Ich dulde keine Jungen mit Kerzen hier unten«, keifte sie, als sie das Licht bemerkte, das seine Hand verströmte.

»Aber ...«, wollte Septimus protestieren.

»Normalerweise dulde ich Jungen hier unten überhaupt nicht. Und wenn es nach mir ginge, würde ich nicht einmal welche ins Haus lassen. Mit Jungen hat man nur Ärger.«

»Aber ...«

»Jetzt mach die Kerze aus und komm.«

Septimus schob die rechte Hand in die Tasche seines Kittels und folgte Una Brakket in einen schmalen gemauerten Gang. Der Gang schlängelte sich tief unter den Straßen der Burg und führte unter die benachbarten Häuser und Gärten. Die Kerze flackerte und tropfte in dem kalten Luftzug, der durch den Gang strich und nach feuchter Erde und Schimmel roch. Je weiter sie kamen, desto kühler wurde es. Septimus fröstelte und begann sich zu fragen, wohin Una ihn eigentlich brachte.

Plötzlich blieb sie stehen. Eine dicke Holztür versperrte den Weg. Una nahm den Schlüsselbund, der an ihrem Gürtel hing, wählte den größten Schlüssel aus und steckte ihn in das Schlüsselloch, das merkwürdigerweise mitten in der Tür saß. Septimus lugte um sie herum, um zu sehen, was sie tat, da ertönte hinter der Tür ein lautes Surren.

Una Brakket machte einen Satz nach hinten und landete voll auf Septimus’ Fuß.

»Aua!«

»Zurück!« Sie gab Septimus einen kräftigen Stoß, der ihn zurück in den Gang schleuderte. Im nächsten Moment fiel die Holztür wie eine kleine Zugbrücke krachend vor ihnen zu Boden.

»Warte hier«, raunzte Una. »Weiter darfst du nicht. Ich werde Madam Marcia sagen, dass nach ihr verlangt wird.« Damit schritt Una Brakket über die Tür, als handele es sich tatsächlich um eine Zugbrücke.

Septimus schlüpfte hinter ihr ins Laboratorium.

Professor Weasal Van Klampffs Laboratorium war der seltsamste Ort, den er je gesehen hatte, und er hatte schon einige sehr seltsame Ort gesehen, seit er Marcias Lehrling war.

Das Laboratorium war in gedämpftes blaues Licht getaucht. Es war ein langes, schmales Kellergewölbe mit einem Gewirr aus brodelnden und blubbernden Phiolen und Flaschen, Kolben und Trichtern, alle verbunden durch eine Glasröhre, die sich in vielen Windungen von vorn bis hinten durch das gesamte Laboratorium schlängelte. Am Ende dieser Apparatur sprudelte ein blaues Gas in die Luft, von dem Professor Van Klampff glaubte, dass es Schatten fern hielt. Es erfüllte den Raum mit einem unverwechselbaren Geruch, der Septimus an verbrannten Kürbis erinnerte.

Septimus spähte in den blauen Nebel. Wo war Marcia? Nach einer Weile entdeckte er sie am anderen Ende des Laboratoriums. Ihre hochgewachsene Gestalt stand neben der gedrungenen des Professors und hielt ein Reagenzglas mit einer leuchtenden schwarzen Flüssigkeit in der Hand. Sie war über den Knall der zu Boden fallenden Tür erschrocken und starrte in den blauen Dampf, um festzustellen, was geschehen war.

»Was willst du denn hier?«, rief sie überrascht, als Septimus plötzlich hinter Una auftauchte. »Du solltest dir doch freinehmen. Ich möchte nicht, dass sich deine Mutter wieder beschwert.«

»Ich komme wegen Jenna«, rief Septimus. Geschickt wich er Unas grapschenden Armen aus und flitzte zu Marcia.

»Was? Was ist mit Jenna?«, fragte Marcia verwirrt, denn ihr schwirrte noch der Kopf von den endlosen mathematischen Formeln, die Professor Van Klampff ihr erklärt hatte, um ihr begreiflich zu machen, warum die Herstellung des Schattenfangs so lange dauerte. Er hatte Marcia gerade die erstaunlich komplizierten Gussformen gezeigt, die man für die Herstellung jedes einzelnen Verbindungsstücks des Schattenfangs benötigte, als Septimus geklingelt hatte und Una äußerst widerwillig zur Tür gegangen war. Marcia war froh gewesen, dass die Haushälterin sich entfernte, denn sie war die ganze Zeit um sie herumgeschwirrt wie eine lästige Fliege und Marcia hatte sich nur mit Mühe verkneifen können, nach ihr zu schlagen.

»Sie ist fort«, schrie Septimus, der die Außergewöhnlichen Zauberin erreichte, bevor Una ihn packen konnte. Er schlüpfte hinter Marcia, so dass sie zwischen ihm und der erbosten Haushälterin stand.

»Schön, das freut mich zu hören«, sagte Marcia, verdutzt über den Tanz, den Septimus und Una um sie herum aufführten. »Ich finde, Sarah hätte sie früher zum Drachenboot schicken können. Bis Mittsommer sind es nur noch zwei Tage.«

»Nein!«, rief Septimus. »Sie ist nicht auf dem Weg zu Tante Zelda. Sie ist entführt worden!«

»Was?« Marcia ließ das Reagenzglas, das sie in der Hand hielt, fallen. Dem Professor und Una Brakket stockte vor Entsetzen der Atem, denn das Glas enthielt das Amalgam für den Schattenfang.

»Soll das ein Scherz sein?«, fragte Marcia und starrte auf den glänzenden schwarzen Fleck, der jetzt ihre lila Schlangeniederschuhe verunzierte – und auf den Professor, der vor ihr auf den Knien herumrutschte und verzweifelt versuchte, sein kostbares Amalgam zusammenzukratzen.

»Nein«, erwiderte Septimus geknickt. »Leider nicht.«

»Ach, es ist bestimmt nur ein Scherz, oder vielmehr eine Flunkerei«, sagte Una erbittert. Sie kniete sich neben den Professor und machte Anstalten, mit einem Eisenspachtel Marcias Schuhe abzukratzen.

»Finger weg von meinen Schuhen, verstanden?«, rief Marcia frostig. »Ich möchte nicht, dass dieses Zeug ins Leder gerieben wird.« Sie funkelte Una an. »Im Übrigen sagt Septimus immer die Wahrheit.«

»Haha!«, erwiderte Una Brakket und schnaubte wutentbrannt. »Sie sehen doch, was passiert ist. Da lässt man einen Jungen ins Laboratorium, und schon geht etwas kaputt. Ich hab’s gewusst.«

»Jenna entführt?«, fragte Marcia, die beiseite treten wollte und dabei feststellte, dass ihre Füße am Boden festklebten. »Wie? Von wem?«

»Von Simon«, antwortete Septimus, der so schnell wie möglich fort wollte. »Simon hat sie auf seinem Pferd verschleppt. Wir müssen ihnen nach. Wir müssen ein paar Fährtenleser losschicken und ...«

»Sie sollen das lassen, Una!«, rief Marcia. »Was für ein Simon?«

»Simon, mein Bruder. Kommen Sie, Marcia, bitte beeilen Sie sich.«

»Simon Heap?«

»Ja. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten. Ich habe sein Pferd erstarren lassen, aber dann ...«

»Tatsächlich? Ein ausgewachsenes Pferd?«, rief Marcia, erfreut über ihren Lehrling. »Bravo! Wenn du ein Pferd erstarren lassen kannst, kannst du alles erstarren lassen. Aber er hat dich bezwungen?«

»Nein ... das heißt, ja, irgendwie wohl schon«, erwiderte Septimus. »Aber das ist jetzt doch egal.« Er hob die Stimme zu einem verzweifelten Schreien. »Jenna ist entführt worden, und wir stehen hier herum und tun nichts!«

Marcia legte ihm den Arm um die Schultern. »Immer mit der Ruhe, Septimus. Simon ist Jennas Bruder, bei ihm ist sie sicher. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Ich fürchte, der Spinnenbiss hat dich etwas nervös gemacht. Das gehört nämlich zu den Nebenwirkungen von Dunkelspinnengift. Aber du hast Recht, es wird Zeit zu gehen.«

Marcia wandte sich an den Professor, der kummervoll die schwarze Pampe betrachtete, die Una Brakket sorgfältig abkratzte und in einem Glas sammelte. »Ich muss jetzt gehen, Weasal. Ich erwarte das Teil heute Abend.«

»Heute Abend?«, stieß der Professor hervor. »Aber Marcia, ich dachte, Sie hätten verstanden, wie kompliziert das alles ist. Die Herstellung der Gussform ist schwierig ...«

»Aber die Gussform ist doch schon fertig, Weasal. Sie haben sie mir ja eben gezeigt. Sie brauchen nur noch etwas mehr von diesem Zeug herzustellen und hineinzugießen. Ich verstehe nicht, was dieser ganze Zirkus soll.«

Der Professor wirkte nervös. »Aber Una geht heute Abend aus«, sagte er. »In ihre Volkstanzgruppe.«

»Wie schön für Una«, erwiderte Marcia barsch. »Und jetzt hören Sie einfach auf, sich einen Kopf zu machen, und gehen wieder an die Arbeit.«

Der Professor blickte sorgenvoll zu Una Brakket, die ein verdrießliches Gesicht zog. »A... aber«, stammelte er, »wenn wir ... ich meine ... äh ... wenn ich das Amalgam zu schnell herstelle, kann es passieren, dass hier ein Schatten erscheint.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Hier im Laboratorium ...«

»Una wird schon aufpassen«, erwiderte Marcia knapp. »Ich komme heute Abend wieder und hole das Teil ab.«

»An welche Uhrzeit haben Sie denn gedacht, Madam Marcia?«, erkundigte sich Una frostig. »So ungefähr.«

»So ungefähr, wenn ich es einrichten kann«, antwortete Marcia in einem eisigen Ton, der jedem außer Una Brakket einen panischen Schrecken eingejagt hätte. »Und wenn Sie jetzt die Güte hätten, meinen Lehrling und mich zur Tür zu bringen.«

Zum ersten Mal lächelte Una Brakket, genauer gesagt, ihre Mundwinkel strebten nach oben und entblößten ihre Zähne, die im Laborlicht bläulich schimmerten.

»Aber mit dem größten Vergnügen«, sagte sie.

Septimus Heap 02 - Flyte
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